aus: Ralf Noltensberger: Große Geigenprofessoren im Interview

Jens Ellermann mit Dorothy Delay

Wie kamen sie zur Geige, und welches waren die ersten musikalisch wichtigen Einflüsse für Sie?
Ich wuchs in einem musikalisch wie literarisch geprägten Haus auf. Mein Vater ist als Verleger bekannt geworden. Die Bücher waren der eine Teil seines Lebens, der andere die Musik. Er spielte Geige und Bratsche und war mein erster Lehrer. Er pflegte zahlreiche Freundschaften zu Musikern, wie Carl Orff, Eugen Jochum, Eliza Hansen und dem Koeckert-Quartett ? um nur einige zu nennen ? und förderte damals junge Künstler wie Christoph Eschenbach, Justus Frantz etc.: Frühe Eindrücke, die mich prägten und sicherlich meinen Weg in die Musik mitentschieden.

Dieser Weg führte später zu Eva Hermann nach Hamburg, einer Flesch-Schülerin von außergewöhnlicher Kultur im weitesten Sinne, dann zu Alberto Lysy nach London und Rom.

Wann gingen sie in die Vereinigten Staaten?
Das war 1966 ? in Bayreuth traf ich zufällig Walter Levin, den Primarius des La Salle- Quartetts. Ich spielte ihm vor, und er nahm mich spontan an die Universität von Cincinnati, Ohio, mit, wo ich Teaching Assistent wurde. Dort lernte ich endlich das breite Feld der Kammermusik kennen und machte zudem innerhalb von zwei Jahren neue Erfahrungen als Konzertmeister. Ging das La Salle-Quartett auf Tournee, durfte ich Levins und Meyers Schüler unterrichten. Das machte mir am meisten Spaß. Ich hatte als Lehrer Erfolg und bekam meinen ersten Professoren ? Titel.

Wie entstand Ihr Kontakt zu Dorothy Delay?
Ein vermögender Musikliebhaber stiftete unserer Universität in Cincinnati eine hochdotierte Violinprofessur. Dorothy Delay, deren eigentlicher Schwerpunkt an der Juillard School war, übernahm zusätzlich diesen ?Starling Chair?. Ich wurde ihr Assistent. Sie unterstützte mich in jeder Art und Weise, und das Tor war geöffnet. Sehr schnell bekam ich Engagements an das Sommerfestival in Aspen und an die Juilliard School. Die Zusammenarbeit mit Dorothy Delay war einfach, sie ließ mir die Freiheit, die ich brauchte. Es entstand eine wichtige Freundschaft bis zum heutigen Tag.
1983/1984 kamen sie nach Hannover.

Eines Tages bekam ich von Richard Jakoby, dem damaligen Präsidenten der Musikhochschule in Hannover, einen Brief. Er fragte mich, ob ich Interesse hätte, die Nachfolge der Stelle Gertler ? Shevelov zu übernehmen. Nach einem langen sympathischen Gespräch mit Jakoby nahm ich das Angebot an.

Es war eine direkte Berufung, ohne Probezeit, ohne Risiko.Im Dezember 1985 bat mich Präsident Polisi, an die Juilliard School zurückzukommen, eine der Hauptstellen war frei ? in jeder Hinsicht ein höchst interessantes Angebot. Ich nahm an und versuchte eine Zeitlang in Hannover und New York parallel zu arbeiten. Ich merkte schnell, die Anstrengung war zu groß ? das Fliegen, der Zeitunterschied ?

also gab ich New York wieder auf, hatte aber die Zusage jederzeit zurückkehren zu können.Natürlich habe ich neben der Hochschularbeit auch Meisterklassen gegeben, zum Beispiel beim Aspen Music Festival, beim Schleswig Holstein Festival etc. Seit vielen Jahren leite ich im Sommer einen Kurs am Chiemsee, fast ausschließlich für meine eigenen Studenten, denn die Semesterferien sind zu lang, der Unterricht fehlt. Von allen Kursen ist er mir der liebste ? sehr privat, sehr effizient. Ab und zu kommen Kollegen dazu wie Igor Ozim oder Claus Kanngießer.


Sind sie als ausübender Musiker in starker Weise hervorgetreten?

Ja, aber nur im Alter von etwa 20 bis 30 Jahren. Als ich meine Stelle an der Juilliard School neben Cincinnati übernahm, hatte ich keine Zeit mehr. Ich musste pro Woche bis zu 50 Stunden unterrichten, ich hatte eben zwei Lehraufträge.

In dieser Zeit habe ich nie richtig Ferien machen können, zumal ich auch samstags und sonntags unterrichtete ? in U.S.A. sind Musikhochschulen auch an Wochenenden geöffnet.Es herrscht dort ein ganz anderes Druck-, und Konkurrenzsystem. Die ersten Verträge, die ich mit Hochschulen aushandelte, liefen über ein Jahr. Später über zwei Jahre.

Erst wenn man sieben Jahr an einer bestimmten Hochschule war, gab es die Chance der Unkündbarkeit.In Deutschland ist es keine Seltenheit, dass Professoren nur einmal im Monat in die Hochschule kommen, denn sie konzertieren rund um die Welt. Ein berühmter Solist mit regelmäßiger Podiumserfahrung kann natürlich für den jungen Studenten Attraktion im besten Sinn bedeuten.

Doch in den ersten Studienjahren scheint mir der regelmäßige Unterricht wichtiger zu sein als ein großer Name. Schließlich bilden wir Orchestermusiker aus und höchst selten Solisten.In den U.S.A. gibt es für jeden Lehrer eine vertragliche Anwesenheitspflicht. Urlaub wird nur durch Antrag über den Präsidenten gewährt. Die unbegrenzten Freiheiten an deutschen Hochschulen wären in Amerika undenkbar. Diese hiesige ?Laisser Faire? ? pardon ? ist Verschwendung von Steuergeldern.

Würden sie Dorothy  Delay, obwohl Sie sie erst relativ spät kennen gelernt haben als eine Ihrer Lehrerinnen bezeichnen?

Nicht als Lehrerin im klassischen Sinne ? wir haben uns zu spät kennengelernt – , aber als meine wichtigste Mentorin. Für mich ist Dorothea Delay ?the big diamond?.

Wer hören, sehen und denken kann, findet bei ihr alles, was in die Schublade Musik, Karriere, Technik, Interpretation, Leben, Integration gehört. Ihr Instinkt für den psychologischen Moment in einem Gespräch ist außergewöhnlich.

Sie verschwendet keine Worte, es geht ihr um das Wesentliche, um die Klarheit und Deutlichkeit in der Musik. Sie unterrichtet nicht im traditionellen Sinn, sondern fragt den Studenten etwa bei einer Sonate nach seinen Interpretationsvorstellungen und ? wünschen. Die sollen vom Schüler kommen, nicht vom Lehrer. Natürlich habe ich bei Eva Hauptmann und Walter Levin sehr Wesentliches über Musik erfahren. Aber das Wichtigste über die instrumentelle wie professionelle Seite des Geigens erfuhr ich von Dorothy Delay.

Ein Beispiel: Wie setzt man musikalische Ideen in Farbe, Klang, Rhythmus, Energie, Artikulation um? ? Schnelle Striche, enges Vibrato, rascher Lagenwechsel, genaue Koordination zwischen links und rechts, körperliche Effizienz in den Bewegungen, das sind nur ein paar Punkte aus einem komplexen Prozeß.

Die Versprachlichung dessen, was zum Geigen gehört, fördert natürlich das Denkvermögen des Schülers und läßt ihn selbständig werden.

Abhängigkeit ist tödlich. Deshalb frage ich auch sehr viel. So ermuntere ich den Schüler zum Mitdenken. Geigentechnik ist ja im Grunde etwas sehr Pragmatisches. In bezug auf den Bogen gibt es nur drei Komponenten, die den Klang beeinflussen, nämlich Bogengeschwindigkeit, Bogengewicht und Kontaktstelle.

Wenn sie diese drei Faktoren sinnvoll miteinander kombinieren, dann erhalten sie ein Resultat, das klanglich in Ordnung ist. Je nach Lage der Dinge müssen die Fehler dann mit dem Schüler zusammen analysiert werden. Dabei ist es aber auf jeden Fall ganz wichtig, daß der Schüler weiß, welches Klangergebnis er erzielen möchte. Man muß sich vorher mit der Partitur, der jeweiligen Aufführungspraxis, auch mit anderen Interpretationen beschäftigen. Erst wenn man eine klare Zielvorstellung hat, kann man wirklich befriedigend üben.

Was ist dann Musik?

Musik besteht aus Noten und Rhythmus ? nichts anderes. Wer bei mir ein Konzert oder eine Sonate studiert, der spielt in der ersten Stunde einen ganzen Satz unter Tempo, aber mit richtigen Noten und im richtigen Rhythmus.

In der zweiten Stunde sollen dann auch Striche und Fingersätze, die ich bei den großen Konzerten oft vorgebe, in Ordnung sein. Dabei werden dynamische Vorschriften nicht beachtet. Es geht darum, daß jede Noten möglichst rund und dick klingt. Die Ästhetik des Klanges ist der wichtigste Aspekt. Guter Klang ist in höchstem Maße von genauer Intonation abhängig.

Man muß hören lernen ? am besten nimmt man einen Satz eines Stückes ? pro Note einen ganzen Bogen ? Pause ? insgesamt auf Rhythmus verzichten ? alle Noten in der gleichen Länge.

Itzhak Perlman demonstrierte diese Idee in einer Meisterklasse in Aspen im Wieniawski-Konzert ? das habe ich sofort übernommen. Als nächster Schritt kommt das Auswendiglernen ? ebenfalls in langsamem Tempo wie die folgende Integrierung der Dynamik ? in genauer Kenntnis der Partitur.

Kann Schnelligkeit nun geübt werden?

Sprechen wir also über die Ecksätze eines Konzerts, wo rasches Tempo dominiert. Als Student machte ich selbst die Erfahrung, daß man Schnelligkeit nicht über großen Ton lernen kann. Die Charakteristik der Schnelligkeit ist Leichtigkeit, Flexibilität, Reflex, Koordination.

Der Bogenarm beeinflußt enorm die linke Hand ? so sollte man anfangs leicht und leise spielen und über das Metronom Zahl für Zahl das Tempo steigern. Erst wenn dieses Ziel erreicht ist, können die Klavierproben wieder beginnen und dynamische Verhältnisse eingebaut werden. Das ist die erste der drei Säulen meines Unterrichts. Die zweite: Das Üben zu Hause, eine komplizierte Sache.

Begabungen sind schwer vergleichbar. So gibt es logischerweise für jeden Studenten verschiedene Arbeitsrezepte. Mein wichtigster Rat ist, selektiv zu üben und täglich eine Liste von verschiedenen Themen in verschiedenen Stücken zu erstellen, wie etwa Rhythmus, Intonation, Gedächtnis, Legato, Artikulation, Dynamik, Bogenteilung, Beschäftigung mit der Partitur etc. Diese Themen sollte einzeln und zeitlich begrenzt angegangen werden.  Falls  ein Schüler mit dem Üben nicht weiterkommt, lasse ich mir von ihm ein Tagebuch über seine Arbeit schreiben und analysiere es dann zusammen mit ihm.

Niemand darf überfordert werden ? alle Aufgaben sollen lösbar sein, sonst geht das Selbstvertrauen verloren. Am meisten muß man bei Kindern darauf achten. Die dritte Säule in einem jungen Geigerleben muß die regelmäßige Vorspielpraxis sein. Das bedeutet an der Hochschule in Hannover: Pro Woche ein öffentlicher Vortragsabend, außerdem wöchentliche Etüden- und Orchesterklassen.

Der Schritt aus dem Studio in die Öffentlichkeit ist wohl das schwierigste und sollte während des Studiums sorgfältig vorbereitet werden.

Eine der Vorraussetzungen für die Freiheit im Spiel ist eine gute Atmosphäre in einem Studio. Ich unterbreche beim Vorspielen nie und höre oft ein ganzes Konzert an. Der Lehrer muß im Hintergrund bleiben.

Was ich dem Schüler dann sage, formuliere ich sorgfältig. Hochbegabungen sind oft sehr empfindlich und reagieren wie Seismographen. Wenn möglich würdige ich zuerst die erbrachte Leistung. Im weiteren Verlauf des Gesprächs kommen dann Fragen wie ?Was könnten sie ändern und verbessern??. Indem ich den Schüler mit einbeziehe, erreiche ich mehr, als mit direkter Kritik. Es gibt so viele Wege zu unterrichten, und das hier Formulierte erhebt keinesfalls den Anspruch auf Ausschließlichkeit, zumal solch ein Interview bestenfalls einen Teil meiner komplexen Arbeit wiedergeben kann.

In wieweit legen sie Wer auf stilistische Ausbildung Ihrer Schüler?

Von Natur aus bin ich ein Pragmatiker. Meine Hauptaufgabe sehe ich darin, das äußerst filigrane Handwerk des Geigens zu vermitteln, also das Mittel zum Zweck. Stimmt das Handwerk, dann lasse ich meinen Studenten großen Freiraum in der Interpretation eines Werkes. Ich sage niemals, wie Mozart oder Bach zu spielen sind, beharre aber auf deutlicher Unterscheidung.

Ein junger Mensch muß vor allem seine Phantasie einsetzen dürfen, uneingeschränkt ? er muß frei sein. Deutschland steckt tief in einer musealen Tradition, und oft wird Musik einfach nur verwaltet, ?man geht zum Dienst?.

Kein Hauch von Improvisation und Eigenwilligkeit liegt in der Luft. Und doch hat sich das internationale Konzertleben verändert. Geiger wie Nigel Kennedy oder Vanessa Mae haben mit Tradition nichts im Sinn.

Ich werde nie die Meisterklasse mit Joseph Szigeti vergessen. Er hatte uns alle eisern im Griff, wir waren gehemmt und verkrampft. Für mich ist die Entwicklung eines Schülers in Freiheit am wichtigsten, sozusagen der Mut zum Risiko, auch wenn das im Chaos enden kann. Ein Talent, Freiraum und Großzügigkeit von seiten des Lehrers, um sich zu entfalten. Vergleichen sie nur zwei meiner früheren Schüler, Midori und Gil Shaham. Sie spielen beide auf sehr persönliche und unterschiedliche Art und Weise.

Ich möchte noch einmal auf die von Ihnen angesprochene Traditionsverhaftetheit der Hochschulen zurückkommen. Was würden sie ändern wollen?

Deutsche Musikhochschulen führen ihr eigenes Leben, ein Innenleben. Die Außenwelt wird selten beachtet. Es herrscht große Freiheit an den Hochschulen ? eigentlich nicht schlecht. Die Studenten und Professoren können viel oder wenig tun ? es fällt nicht auf, leider. Das Gelernte wird selten geprüft, Kontrollen gibt es so gut wie gar nicht. Natürlich muß man gewisse bürokratische Regeln einhalten, sonst hat man Ärger. Seit vierzehn Jahren unterricht ich in Deutschland und lese jedes Jahr von geplanten Hochschulreformen.

Wo sind die wohl hängengeblieben? Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, daß der klassische Musikbetrieb in der Krise steckt. Orchester werden aufgelöst oder zusammengelegt, CD-Produktionen drastisch reduziert, staatliche Mittel gekürzt, und irgendwann sehe ich die klassische Musik ins Museum wandern.

Ich meine die Hochschulen müssten noch heute reagieren. Die Zahl der Absolventen übersteigt bei weitem die der auf dem Markt benötigten Musiker. Es gibt in Deutschland zu viele Musikhochschulen, zu viele Professoren und Lehrbeauftragte.

Eine vakante Professur darf einfach nicht automatisch neu besetzt werden. Wenn alles auf die Hälfte reduziert würde, käme man der Realität ein Stück näher. Eine reduzierte und auf die Qualität ausgerichtete Hochschule ist die Basis, die Lehrer und Studenten brauchen, um den Ansprüchen und Veränderungen unserer heutigen Musikwelt gerecht zu werden.

Dieser Wunsch ist nicht utopisch, sondern erfüllbar und kostet nichts. Als Lehrer fühle ich mich verantwortlich dafür, dass meine Schüler nach dem Studium einen adäquaten Beruf finden, den eines Orchestermusikers meistens. Das ist mein Ziel darin sehe ich meine Aufgabe.
Interview aus Noltensmeier, Ralf: Große Geigenpädagogen im Interview; Bd.2, Thomas Brandis, Jens Ellermann, Miriam Fried, Saschko Gawriloff, Rainer Kussmaul, Igor Ozim, Werner Scholz, Peter Götzelmann Verlag, Kiel 1998, S.27-35.